Algorithmic Media: putting the „Social“ out of „Social Media“

Erinnert sich noch jemand an die ursprüngliche Vision sozialer Medien? Eine digital, für jeden erreichbare Agora, in der sich Menschen frei austauschen und vernetzen können. Die Verheißung Sozialer Medien war die Demokratisierung von Information. Freier Austausch und noch nie dagewesene Vernetzung. Diese Utopie hat mit Algorithmic Media die Abbiegung zum Dystopischen genommen, in dem nicht mehr unser (digitales) soziales Umfeld den entscheidenden Einfluss darauf hat, was wir sehen, wie wir denken und fühlen – sondern Algorithmen.

Der große Etikettenschwindel: Warum „Social Media“ heute eine Farce ist

Vergesst alles, was euch „Social Media“ versprochen hat. Was auf TikTok oder X heute tatsächlich geschieht, hat kaum noch etwas mit sozialem Austausch zu tun. Die uns präsentierten und uns in die Feeds gepressten Inhalte sind das Resultat hochentwickelter Algorithmen – und diese sind nicht neutral. Sie beeinflussen, welche Themen uns beschäftigen, wie sich gesellschaftliche Stimmungen entwickeln und welche Narrative sich durchsetzen. Algorithmic Media sind hochentwickelte Dual-Use-Instrumente, die ungefiltert und potenziell interessengesteuert (nur halt nicht von unseren eigenen) in unsere Köpfe wirken und das nahezu ohne Gegenwehr.

Algorithmic Media ist Social Engineering auf der Meta-Ebene

Diese gezielte Steuerung von Inhalten ist kein Zufall. Sie folgt einer Strategie, die darauf abzielt, die Nutzer:innen zu beeinflussen, auch regional. Mindsets emergieren hier nicht aus sozialen Gefügen, sondern werden algorithmisch geformt. Beispiel TikTok: In westlichen Ländern wird häufig Trivialität gefördert, während in China „gesellschaftlich wertvolle“ Inhalte die Oberhand gewinnen. Die „dual-use“-Fähigkeit dieser Plattformen offenbart eine subtile, äußerst mächtige Form der Propaganda und Verhaltenslenkung. Während in westlichen Ländern bestenfalls eine Kultur der Belanglosigkeit verstärkt wird, nutzt die chinesische Regierung die Plattform, um ihre Bevölkerung in eine gewünschte Richtung zu lenken. In China, wo die App als „Douyin“ firmiert, fördert der Algorithmus gezielt Bildung und kulturelle Werte. Die Aufmerksamkeit junger Nutzender wird mit Videos genährt, die zum Erlernen traditioneller Instrumente oder zur Beschäftigung mit Mathematik animieren. Im „Westen“ animieren Videos etwa dazu, Waschmittel zu fressen (wie bei der berüchtigten Tide Pod Challenge).

Algorithmic Media: Ein Instrument der Soft oder Hard Power?

Nun, das ist vermutlich davon abhängig, zu welchem Zeitpunkt man diese Frage stellt. Noch ein bekanntes Beispiel: Unter Elon Musks Führung hat sich Twitter/X zum unrühmlichen Exempel algorithmischer Manipulation entwickelt. Rechtskonservative Stimmen wie Tucker Carlson oder Donald Trump (und nicht zuletzt Elon Musk selbst) erhalten plötzlich wieder eine Plattform, die sie – dank der Algorithmen – ideologisch dominieren und manipulieren können. Die einst offene Diskussionskultur wich einer gezielten politischen Agenda, bei der heute ausgewählte demagogische Inhalte den Nutzenden in einer ungeheuren Massivität in die Feeds gepresst werden – völlig egal, ob man deren Urhebern folgt oder nicht. Das verzerrt die Wahrnehmung der Realität und wirkt letztlich auf diese zurück. Und das nicht zum Guten.

Massenhysterie statt Demokratisierung

Das alles ist nicht ganz neu, auch wenn es uns gerade in noch nie dagewesener Geschwindigkeit das Großhirn planiert. Der heute als entscheidender Schritt zur Demokratisierung von Wissen bejubelte Buchdruck brachte, so wie es Harari in Nexus schreibt, zunächst vor allem die Verbreitung destruktiver Inhalte zu Tage. Die Gesellschaft stand diesem neuen Medium kognitiv noch wehrlos gegenüber. Als der Buchdruck im 15. Jahrhundert erfunden wurde, galt er als revolutionär – wie auch einige hundert Jahre später der Hypertext. Doch zu Beginn waren es nicht gerade die aufklärerischen Schriften, die ihren Weg zu den Menschen fanden. Es war der „Hexenhammer“, der zur Hexenverfolgung aufrief und zu einer massiven Eskalation der Hexenprozesse führte. Heute sehen wir den Buchdruck als riesige Erfolgsgeschichte. Die „Hexen“ würden das wohl anders einschätzen…

Der Algorithmus, bei dem man mitmuss!

Neben dem offensichtlich Weltpolitischen (diese Situation hat Trump entscheidend den Weg zurück ins Weiße Haus gebahnt) sehen wir auch im deutschsprachigen Raum die Auswirkungen in Echtzeit. Gerade die rechtspopulistischen Parteien verstehen es, die Algorithmic Media mit ihren zu einfachen, kurzen, dafür umso lauteren und interaktionsstarken Inhalten für sich zu nutzen. Unklar bleibt dabei, inwiefern internationale Akteure, die an einer Destabilisierung Europas interessiert sind, dies noch zusätzlich befeuern. Unabhängig davon sind die Folgen bereits eingetreten: psmm.info hat für die Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen 2024 analysiert, wie hoch die Sichtbarkeit der einzelnen Parteien auf TikTok war. Nun ja: Mit 71 Prozent war die AfD mit ihren Inhalten bei Erstwähler:innen mehr als doppelt so häufig im Feed, als alle Inhalte aller übrigen zur Wahl stehenden Parteien zusammen. Und manch eine:r wundert sich, warum die Erstwähler „plötzlich“ stärker rechts wählen…

Dark Patterns: Schenke mir deine Aufmerksamkeit!

Dabei ist es fast schon selbst verständlich, dass zahlreiche Dark Patterns eingesetzt werden, die uns länger auf den jeweiligen Plattformen halten, um uns bestimmten Inhalten auszusetzen. Es ist eine subtile, effektive Form der Massenmanipulation, die frontal auf unser Belohnungssystem geht. Der Beginn des Endlos-Scrollings als Ende der Selbstbestimmtheit. Does it scale? Yes, unfortunately.

Zombieland

Die digitale Revolution wartet nicht und sie frisst die Gehirne ihrer Kinder. Am Beginn einer technologischen Revolution sind wir dieser kognitiv relativ wehrlos ausgeliefert. Wir sind näher daran, die neu aufgelegten Hexenhämmer als Denkschablonen anzuwenden und merken es dabei häufig noch nicht einmal. Umso mehr und umso schneller ist es wichtig, Medienkompetenz zur Schlüsselqualifikation des 21. Jahrhunderts zu erklären – koste es, was es wolle. Denn ansonsten kostet es uns womöglich ohnehin alles.

Letztlich hat die Erfindung des Buchdrucks, für die, die sie überlebten, doch noch enorme Potenziale gehoben. Aber bis dahin droht, dass wir als Gesellschaft unsere kognitive Autonomie verlieren. Ich sehe es durchaus mit Wohlwollen, dass immer mehr Schulen planen, Smartphones zu verbannen und immer mehr Länder, Social Media für Kinder und Jugendliche zu verbieten (TikTok is digital nicotine).

Hoffentlich werden wir in nicht allzu vielen Jahren mit einem Schmunzeln, und nicht mit bitterer Verzweiflung, auf die heutige Zeit blicken und uns fragen, wie man Algorithmen gegenüber nur so naiv und wehrlos gegenübertreten konnte.