Was Corona für die Gesellschaft bedeutet? Instabilität. Warum das auch gut ist und was das mit dem Tipping Point zu tun hat:
Definition Tipping Point
In “The Tipping Point – How Little Things Can Make a Big Difference” beschreibt Malcolm Gladwell, wie für sich genommen kleine Ursachen und deren Rückkopplungen zu Punkten führen, die Kontinuitäten brechen. Geradlinige Entwicklungen brechen ab, wachsen plötzlich exponentiell oder wechseln komplett die Richtung.
Ich denke, wir befinden uns gerade in einem Moment multipler Tipping Points.
Ist die Corona-Krise also der Zeitpunkt, um endlich den Schritt von der Moderne in die Postmoderne zu schaffen? Einiges spricht dafür. Es ist längst Zeit für fällige Anpassungen und gesellschaftliche Weiterentwicklung. Vielleicht schaffen wir es nun endlich, die Möglichkeitsräume über im Grunde jene des 20. Jahrhunderts hinaus zu öffnen – und vor allem auch zu betreten.
Corona als Chance
Warum aber soll gerade Corona eine Chance sein? Es ist doch eine existenzielle Gefahr. Stimmt. Und genau darin liegt der Clou. Um das zu verstehen, hilft ein Blick in das Werk des 2015 verstorbenen Psychologen und Systemtheoretikers Peter Kruse. Zunächst ein ganz kurzer grundsätzlicher Abriss: Verkürzt gesagt sollten Organisationen über den Weg der Transparenz und Teamintelligenz zunächst zu lernenden Organisationen werden, um schließlich funktionierende, selbstlernende Netzwerkintelligenz aufzubauen. Das klingt deshalb recht abstrakt, weil mit jedem Entwicklungsschritt auch Komplexität und Dynamik zunehmen. Das ist aber letztlich der Preis, den wir bereit sein müssen, zu bezahlen. Soviel zur Theorie.
Warum braucht es eine Krise?
Naja, wer wird schon gerne gezwungen einen Preis zu bezahlen? Wenn man sich’s aussuchen kann, zahlt man ihn ja eher nicht. Geht’s wirtschaftlich bergauf, ist zudem die Veränderungsbereitschaft ohnehin kaum vorhanden. Es läuft ja. Man redet sich ein, alles richtig zu machen. Das heißt, die Beharrungskräfte dominieren in einem stabilen System. Für die Weiterentwicklung benötigt es allerdings Instabilität. Und nichts anderes ist eine Krise im Grunde genommen.
Wer zu lange beharrt, den bestraft die Globalisierung. Die Digitalisierung ist eine gute, durchaus bereits seit längerem erkennbare Veranschaulichung dessen. Doch waren die Beharrungskräfte in Boom-Zeiten naturgemäß dominant und alles, was die Stabilität gefährdete, musste außerhalb von Möglichkeitsräumen stattfinden.
Der Preis, den es zu bezahlen gilt
Steigt die Vernetzungsdichte in einem System, steigt auch die Wahrscheinlichkeit unvorhersehbarer Wirkungen und Rückwirkungen. Corona in einer vernetzten (globalisierten) Welt ist ein eindrückliches Beispiel. Sich darin bildende Ordnungen sind entsprechend der Systemtheorie zunehmend komplexer und auch von kürzerer Dauer. Darauf müssen wir uns schlicht und einfach einstellen.
Das Gute daran: Um diesen Preis können wir auch sehr, sehr viel bekommen! Darüber hinaus können wir dafür viel von uns selbst lernen. Das menschliche Hirn ist im Grunde genommen selbst ein System mit extrem hoher Vernetzungsdichte, das auf wachsende Komplexität und Veränderungsgeschwindigkeit mit weiterer Vernetzung reagiert. Es ist demnach nicht in erster Linie auf Stabilität ausgelegt, sondern auf Anpassungsfähigkeit:
“Das Hirn ist besonders kreativ in Zeiten der Instabilität. Die Faszination des Übergangs kann Kräfte freisetzen. In der Instabilität vermindert sich im System zwar vorübergehend die Handlungsfähigkeit, aber die Anpassungsfähigkeit ist erhöht, und Sie werden kreativ.”
Peter F. Kruse
Natürlich ist angemessene Vorsorge zu treffen zweifellos sinnvoll. Wird die Vorsorge aber zum Leitmotiv einer Kultur, steigt damit auch die ihr inhärente Beharrungstendenz bzw. Veränderungsresilienz. Im Wesentlichen stellen also alle Maßnahmen, die die Vernetzungsdichte in Organisationen erhöhen, einen positiven Beitrag zur Kultur des Wandels – zur Überwindung der Beharrungskräfte – dar.
Tipping Point wofür?
Nun hat uns Corona also in eine Welt katapultiert, die zwar schon länger eine hohe Vernetzungsdynamik aufweist. Aber erst jetzt wurde uns schmerzlich bewusst, wie komplex und instabil diese tatsächlich ist. Mit Beharrungskräften kommt man da nicht weiter. Aber Kreativität und Instabilität sorgen dafür, dass zum Preis vermeintlicher Stabilität bisher lediglich außerhalb der Möglichkeitsräume gehaltene Szenarien plötzlich möglich werden könnten. Ohne Corona-Krise wäre das wohl noch nicht der Fall. Dabei ist es längst Zeit für fällige Anpassungen.
Beispiele gefällig?
Tipping Point Mobilität
Bewegung in der Mobilitätsdebatte: Im Autoland Deutschland erhalten Verbrenner keine Subvention, E-Autos hingegen die doppelte.
In Österreich wird ein Mindestpreis für Flugtickets festgelegt sowie ein österreichweites Öffi-Ticket realisiert.
Das persönliche Auto wird in urbanen Räumen bereits zum Fortbewegungsmittel einer antiquierten Generation degradiert. In Großstädten schießen Radwege aus dem Boden, von denen wohl nicht alle bald wieder verschwinden werden. Diese gesellschaftliche Veränderung schreibt sich also in Zeiten der Krise dem öffentlichen Raum ein.
Tipping Point Arbeit
Remote Work is here to stay! Wie sehr hatten sich viele Arbeitgeber dagegen verwehrt und auf physischer Facetime beharrt? Nun hat die Krise dafür gesorgt, dass gerade durch das unbeliebte “Home Office” die Restwertschöpfung überhaupt möglich blieb – es wurde quasi von einem Tag auf den anderen vom Saulus zum Paulus und die argumentative Bringschuld in der Debatte hat die Seite gewechselt.
Die Debatte über Arbeitszeitverkürzungen ist seit spätestens den 1980er-Jahren im Wesentlichen eingeschlafen. Bis dahin wurde von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verkürzt – genau, wie es die Grundidee der Industrialisierung vorsah. Doch dann: wirtschaftlicher Aufschwung und Beharrungskräfte. Die während Phasen der Stabilität ins Treffen geführten Beharrungskräfte verlieren während Krisen aber als Argumente rapide an Überzeugungskraft.
Ach ja: Im Grunde ist die Distinktion zwischen Arbeitszeitverkürzung und Kurzarbeit übrigens auch “nur” ein nachträglich zugeschriebener semantischer Unterschied.
Tipping Point Fleischkonsum
Die Debatte über Sinn und Unsinn von massivem Fleischkonsum in der westlichen Welt rückt in die Mitte der Gesellschaft. Corona macht Missstände sichtbar. Nicht, dass man die nicht vorher auch hätte entdecken können, aber nun ist es plötzlich zunehmend schwer, sie zu ignorieren. Also setzt man sich auch damit auseinander. Das fragwürdige, aber lange stabile System wird instabil.
Noch mehr Beispiele, die durch die von Corona verursachte Instabilität einen Boost erleben (können)?
- Digitalisierung von Bildung
- Vermögensbesteuerung
- Staatliche Beteiligungen
- Re-Regionalisierung von Wertschöpfung
- über alle dem bzw. das alles betreffend: Klimaschutz
- …
Prozessmusterwechsel für eine bessere Zukunft
Corona kann die Chance sein, um aus impliziten gesellschaftlichen Strömungen, die bis vor kurzem am Rande stattfinden mussten, positive Manifestationen im Zentrum der Gesellschaft zu generieren.
Fosbury-Flop
Ein schönes Beispiel (auch von Kruse) dafür ist die Entwicklung der Technik im Hochsprung. Das Ziel ist seit jeher klar definiert. Lange rangen die Athletinnen und Athleten mit dem sogenannten Straddle ihren Sprüngen ein paar Millimeter mehr an Höhe ab. Dazu wurde die Latte in einer Art vorwärts-seitlichen Rollbewegung übersprungen. Alle haben versucht, diesen Ablauf immer weiter zu optimieren. Bei den olympischen Spielen vollzog Richard Douglas Fosbury für alle überraschend einen Wechsel des Prozessmusters. Er lief schneller an, nützte kurz vor der Latte ein Bein, um sich auf den Rücken zu drehen und rollte sich rücklings über die Latte. Der Fosbury-Flop war geboren und Fosbury Olympiasieger. In diesem Moment hat Fosbury mit einem neuen Prozessmuster den Sport für immer verändert.
Dabei ist es jedoch entscheidend, das Ziel im Auge zu behalten. Ansonsten blüht uns, was schon Mark Twain beschrieb:
„Kaum verloren wir das Ziel aus den Augen, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.“
Mark Twain
Ach ja, und: Kommunikation ist das Rückgrat eines jeden Veränderungsprozesses.