Eine europäische Utopie: Zwischen Gestern und Morgen
Als ich vor einigen Monaten durch die Straßen Wiens schlenderte, jener Stadt, die Stefan Zweig so eindringlich in „Die Welt von Gestern“ beschrieben hat, und ein Jahrzehnt lang auch „meine“ Stadt, wurde mir bewusst, wie sehr sich dieser stets multikulturelle Sammelpunkt gewandelt hat. Die Wiener Kaffeehäuser, einst Brutstätten revolutionärer wie fataler Ideen, in denen 1913 gleichzeitig Adolf Hitler, Leon Trotzki, Joseph Tito und Joseph Stalin, aber insbesondere zahlreiche prägende jüdische Intellektuelle, wie Sigmund Freud, verkehrten, sind heute Touristenattraktionen. Was wäre Wien heute, hätte man den ersten und damit den zweiten Weltkrieg verhindert? …eine rhetorische Frage.
Das Habsburgische als Vielvölkerstaat, gescheitet am Völkischen mit dem nicht aufgegangenen Samen des Multikulturellen und Postnationalen in sich und organisiert als monarchistischer Anachronismus. Aber wir alle wissen, wie es letztlich gekommen ist: Es hat ihn zerrissen und der Krieg kam über Europa. Es hätte vielleicht nicht so kommen müssen, wenn man liest, was Zweig noch bis kurz davor an Potenzial für den Eintritt ins Postnationalstaatliche wahrnahm. Aber es kam. Man ist durch mangelnde Achtsamkeit und fehlende Besonnenheit ins Unglück gestolpert. Doch der Geist der Aufklärung, den Zweig beschwor, lebt weiter – wenn auch in veränderter Form. In diesem Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Zweigs Nostalgie, als Grenzen unverbindlichen Charakter hatten, und Robert Menasses visionärem Blick auf „Die Welt von Morgen„, hier ein Versuch, die Gegenwart Europas optimistisch zu erfassen – wenngleich klar ist, dass dieser Essay natürlich nicht an die Verve und unglaubliche Dichte von Zweigs Wirken und Leben oder die feine Sprache und ausgefeilten, in feinsinnige Formulierungen gegossenen Gedanken Menasses heranreicht.
Katharsis voraus?
Der Kontinent, einst Wiege der Aufklärung und ebenso Schauplatz unsäglicher Gräuel, steht erneut vor der Aufgabe, sich neu zu erfinden. Die Welt um Europa herum ist in Aufruhr. Russlands aggressive Gebärden im Osten, Chinas unersättlicher Hunger nach globaler Dominanz und die schwindende Verlässlichkeit der einstigen transatlantischen Schutzmacht USA haben Europa in die Enge getrieben. In dieser Bedrängnis offenbart sich jedoch auch eine Chance zur Neubesinnung und Emanzipation.
Das Vereinigte Königreich, stets widerwilliger Tänzer im europäischen Reigen, hat sich aus der Gemeinschaft verabschiedet. Mit ihm ging jene Stimme, die als einzige die verbindliche Kraft der Europäischen Menschenrechtskonvention in Frage stellte und sich auch darüber hinaus solitäre Opt-Out-Möglichkeiten erpresste, die für eine Unwucht sorgten. Was zunächst als Verlust erscheinen mag, könnte sich als kathartischer Moment erweisen – die Gelegenheit, den europäischen Gedanken in seiner eigentlichen Form wiederzubeleben.
Doch Vorsicht ist geboten. Die Versuchung ist groß, in einen engstirnigen Nationalismus zurückzufallen, in einen chauvinistischen Egoismus, der die Lehren des blutgetränkten 20. Jahrhunderts ignoriert. Stattdessen muss Europa sich auf jene Prinzipien besinnen, die nach den Verwüstungen zweier Weltkriege heilend wirkten: Frieden und Wohlstand durch Integration und Vernetzung.
Das Alleinstellungsmerkmal Europas, sein wahrer „Pull-Faktor“, liegt nicht in wirtschaftlicher Macht oder militärischer Stärke. Es ist die Europäische Menschenrechtskonvention, jenes Dokument, das den Menschen in seiner Würde und Individualität über alles andere stellt. Nirgendwo sonst auf der Welt wird der Mensch mehr als Mensch geachtet, nirgendwo sonst ist seine Menschlichkeit so sehr rechtlich verankert. Zumindest sollte dem so sein, wenn man sich die selbst verordneten Werte zu Herzen nimmt – und, es sei nochmals gesagt, nicht dem Chauvinismus anheimfällt.
In dieser Erkenntnis liegt der Schlüssel zur Zukunft Europas. Es ist ein Weg, der nur gemeinsam beschritten werden kann, fernab von nationalen Egoismen. Deutschland, das wirtschaftliche Schwergewicht des Kontinents, muss dabei besondere Sensibilität zeigen. Seine Stärke darf nicht als Führungsanspruch missverstanden werden, sondern muss in den Dienst des gemeinsamen europäischen Projekts gestellt werden, besonders, wenn man bedenkt, dass dieses europäische Friedensprojekt notwendige Konsequenz der verheerenden Folgen eines gestellten nationalen Führungsanspruchs ist.
Die wahre Stärke Europas liegt nicht in der Summe seiner Exportüberschüsse, sondern in der Strahlkraft seiner Werte. Es ist an der Zeit, dass Europa sich wieder auf seine einende Kultur besinnt. Dabei soll es weiterhin kosmopolitische Einflüsse aufnehmen, muss sich aber gleichzeitig selbstbewusst gegen einen „Fast-Kulturimperialismus“ von außen behaupten, der droht, die Vielfalt des Kontinents zum Belanglosen zu nivellieren.
Wenn die Umstände es erfordern, muss Europa auch militärisch auf eigenen Beinen stehen. Doch dies darf nur im Dienste des Friedens geschehen, als ultima ratio einer Gemeinschaft, die den Dialog und die Diplomatie über alles andere stellt. Kein europäisches Land kann diese Aufgabe allein bewältigen – nur gemeinsam kann Europa seine Sicherheit gewährleisten.
Der größte Garant für den Frieden ist jedoch die Bildung. Sie ist das Bollwerk gegen Demagogie und blinden Fanatismus. Bildung muss als fundamentales Menschenrecht begriffen und mit allen verfügbaren Mitteln gefördert werden. Nur eine aufgeklärte, humanistisch gebildete Gesellschaft kann die komplexen Herausforderungen unserer Zeit meistern und den Verlockungen simplistischer Lösungen und bewusster Manipulation widerstehen.
In dieser Vision eines souveränen Europas tritt an die Stelle der Nationalstaaten ein Europa der Kulturen und der Vielfalt, in dem jede:r Einzelne seinen Platz und seine Berechtigung findet. Es ist ein Europa, das seine Stärke aus der Unterschiedlichkeit seiner Teile zieht und gleichzeitig durch gemeinsame Werte geeint wird.
Dazu braucht es unter anderem, wie Menasse es richtig erkannt hat, ein Nominierungsrecht für den Posten der Kommissionspräsidentin durch die stärkste Fraktion des Europäischen Parlaments und eine Degradierung des Europäischen Rats, der aus 27 nationalen Kapitänen besteht, die sich ans Ruder des europäischen Schiffs gedrängt haben und es nicht mehr aus der Hand geben möchten.
Die Welt von heute mag voller Gefahren und Unsicherheiten sein. Aber das war sie früher auch und das nicht weniger. Wenn Europa sich auf seine Grundwerte besinnt, wenn es den Mut hat, über nationale Grenzen hinauszudenken und zu handeln, kann es nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Welt einen Weg in eine bessere Zukunft weisen. Dies ist die europäische Utopie, für die es sich zu kämpfen lohnt – eine Utopie, die an Gestern, Heute und Morgen denkt.