Die Disruption. Lange wurde sie euphorisch herbeigeschrieben. Meist verklärt als schaffende Kraft, die aus der Digitalisierung hervorgeht. Doch nun bricht sie über uns herein und die Logik kehrt sich um.
Die Disruption beschleunigt die Digitalisierung. Wir haben es uns nur bisher umgekehrt vorgestellt.
We want disruption!
Die zuerst online aufzufindende Definition des omnipräsenten Begriffs „Disruption“ ist eine von Gründerszene. Der (fragwürdige) deutsche Wikipedia-Eintrag referenziert auch nahezu ausschließlich auf Plattformen der Startup-Szene. Die Deutung des Begriffs leidet also unter einer sehr starken selbstreflexiven Bias:
Disruption ist ein Prozess, bei dem ein bestehendes Geschäftsmodell oder ein gesamter Markt durch eine stark wachsende Innovation abgelöst beziehungsweise „zerschlagen“ wird.
gruenderszene.de
Das klingt sehr proaktiv und gleichermaßen auf die wirtschaftliche Dimension beschränkt. Besonders kluge Köpfe leiten die Disruption ein, wenn sie es für geboten halten – und profitieren wirtschaftlich davon. Disruption wird zum wirtschaftlichen Fortschritt umgedeutet, der von gewievten Akteuren und neuen Playern aktiv getrieben, gar kultiviert wird. Disruption ist toll! Wir sollten nach mehr Disruption verlangen. …Moment!
Be careful what you wish for
Viele Apologeten dieser Deutung wurden während einer relativ langen – und gleichzeitig schändlich unausgeglichenen – Phase des wirtschaftlichen Bergaufs von ebendieser ökonomischen Welle rasant vorwärts gespült, noch bevor sie richtig schwimmen konnten. Sie mussten sich im Rahmen echter, existenzieller Disruption noch nie unter Beweis stellen. Angetrieben von externen Faktoren und zur richtigen Zeit am richtigen Ort konnte man relativ weit kommen und dabei laut nach Disruption schreien. Nun ist sie aber wirklich hier.
Disruption? Bitte sehr, hier ist sie. Oh.
Was aber bedeutet das nun wirklich? Was viele beim disruptiven Sirenengesang aber außer Acht gelassen haben, ist schlicht das Offensichtliche. „Disruptiv“ bedeutet ursächlich, etwas zerstörend, meistens ein Gleichgewicht. Das ist erstmal nicht mehr so geil, zumindest nicht für die meisten. Das war aber schon immer so, klingt halt nicht so positiv-proaktiv (Pro-Tipp: Weil es das für viele nicht ist!).
Sink or Swim
Was nun dazu kommt ist, dass auch die Sorte Wellenreiter, die als Kind schon Spaß daran hatte, zur eigenen Freude Dinge anderer kaputt zu machen, plötzlich zum ersten Mal ganz knapp vor der Erfahrung steht, dass die Disruption über ihren eigenen Köpfen wie eine donnernde Welle zusammenbricht.
Hybris und Demut
Und so sehen wir uns als Gesellschaft global ganz plötzlich einer massiven Disruption ausgesetzt, die kein gehypter junger weißer Mann für sich beanspruchen kann und merken: So prima ist das per se gar nicht. Diese Disruption ist kein perfider Business Plan, sie ist in ihrem Wesen aus menschlicher Perspektive gesehen eine zerstörerische Kraft, die plötzlich die Voraussetzungen ändert.
Nicht jemand hat diese Disruption ge-triggert, sondern sie ist plötzlich einfach so da. Etwas, das in unserer vielleicht doch etwas zu kapitalistischen Hybris nicht mehr vorstellbar schien. Tja.
Somit ist diese Disruption ihrem Wesen nach zumindest eines, nämlich eine wahrhafte Disruption, die den Namen auch verdient. Aber, erstens, wird ihr das herzlich egal sein und, zweitens, haben wir damit aber auch gar nichts gewonnen. Noch.
Mut schöpfen
Nachdem Optimismus aus meiner Sicht die einzige Möglichkeit ist, ein glückliches, progressives Leben zu führen: Nur nicht den Mut verlieren! Es ist natürlich bitter, dass wir bisher immer noch in nach wie vor industriellen Rahmenbedingungen agieren. OK, das war es auch schon vorher, aber gerade jetzt fällt es uns wirtschaftlich besonders auf die Füße. Die Möglichkeiten sind die längste Zeit da, Konzepte wie Vollzeit-Arbeitswochen mit 40 Wochenstunden Facetime on Premise zu hinterfragen, konkrete Alternativen gibt es auch. Aber die Beharrungskräfte waren – selbst für die meisten der selbsternannten Prediger der Disruption – bislang zu hoch und zu bequem.
Jetzt stehen wir da, wie die begossenen Pudel und wissen im Kollektiv nicht so ganz, mit der aktuellen Situation umzugehen. Das ist weder verwerflich, schließlich ist es eine Ausnahmesituation, noch hätte man das irgendwie erahnen können. Dennoch wird die Disruption nun die Digitalisierung erzwingen und nicht eine teils zum Lippenbekenntnis verkommene Digitalisierung die Disruption.
Eines ist die aktuelle Lage also doch: Die Chance, Digitalisierung von einem Buzzword weg und einer ambitionierten Umsetzung zuzuführen. In Möglichkeiten gedacht könnte diese Situation zumindest dafür gut sein, alle Schulen digital auf Vordermann zu bringen, neue Arbeitsmodelle und -modi zu entwickeln und dem Thema Medienkompetenz endlich den ihm zustehenden Stellenwert einzuräumen. Über die Sinnhaftigkeit der Privatisierung von kritischer Infrastruktur, die Rolle des Staats und die Kultivierung von Solidarität inklusive bedingungslosem Grundeinkommen darf an dieser Stelle auch gern wieder intensiver nachgedacht werden.
Schöpferische Zerstörung
Der österreichische Ökonom Josef Schumpeter hat 1942 den Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ geprägt. Die Erläuterungen dazu sind im Grunde genommen bestechend. Auch darin steckt Zerstörung, aber eben nicht nur.
So hat er festgestellt, dass jegliche Weiterentwicklung innerhalb wirtschaftlicher Rahmenbedingungen bedingt, dass das Vorhandene auf schöpferische Weise zerstört wird. Alte Strukturen werden durch neue, bessere verdrängt. Dabei handelt es sich um einen Mutationsprozess. Dieser Prozess tritt immer in Schüben auf, zwischen denen Phasen der verhältnismäßigen Ruhe liegen. Wie gesagt, der oftmalige Trugschluss liegt darin, dass diese Disruption menschlich bewusst gesteuert stattfindet, womit wir wieder beim Punkt Hybris wären. Manches ist Entwicklung, Timing, Zufall, Pech, Glück bzw. meist eine Summe dessen in veränderlichen Anteilen.
Die Hälfte des Fortschritts
Positiv gesprochen: Wir haben die Hälfte des nächsten Fortschrittschubs schon – die Zerstörung. Nun liegt es an uns, sie um das Schöpferische anzureichern.
…die beißende Ironie in disruptiven Veränderungen ist ja der Darwinismus. Denn auch jetzt finden wir uns gerade in Rahmenbedingungen, wenn auch sich verändernden. Eigentlich sind wir auch jetzt gerade wieder dabei, genau da anzukommen, wo wir immer schon waren: Survival of the fittest – also der Anpassungsfähigsten.
Wer sich neuen Situationen am besten anpassen kann, ist im Vorteil. Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass dabei niemand auf der Strecke bleibt. Und: Wer Gleichgewichte vorwiegend zum eigenen Vorteil zerstören will, ist und bleibt ein Arschloch. Ende.
Merkt ihr, ich habe in dem Text kein einziges Mal „Corona“ geschrieben? Oh, hoppla.